Beobachtungen in Japan

Vor kurzem konnte ich Japan eine Stippvisite abstatten und war sehr darauf gespannt, welche Japanbilder ich bestätigt finden würde und welche nicht. Neugierig war ich darauf, welchen Eindruck die Gesellschaft und lokale Wirtschaft auf mich hinterlassen würde: 25 Jahre nach dem Platzen der großen Immobilienblase, 4 Jahre nach der Tsunami- und Fukushima-Katastrophe. Es lohnt sich, überkommene Vorstellungen beiseitezuschieben und unvoreingenommen auf das Land zu blicken, weil uns einiges nur allzu bald sehr vertraut vorkommen wird.


Japan wird oft als das "Land zwischen Tradition und Moderne" bezeichnet und es gibt wenige Orte, die dieses Bild so gut verkörpern wie Kyoto. Mit fast 1.5 Millionen Einwohnern in einem nach Süden offenen Talkessel gelegen, zeigt sich die Stadt nach der Ankunft zunächst als eng bebaute Betonwüste. Gleichzeitig gibt es aber über 1400 Tempel, Schreine und Gärten, die von inländischen und ausländischen Touristen besucht werden und das alte Japan repräsentieren. Viele dieser Sehenswürdigkeiten wurden in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen und an dieser Stelle möchte ich nur bekräftigen, dass sie eine Besichtigung und Reise auf jeden Fall wert sind. Wer detaillierte Informationen zu Kyoto sucht, dem empfehle ich zum Beispiel die Webseiten www.insidekyoto.com und www.japan-guide.com. Nach ein paar Schnappschüssen soll es aber im zweiten Teil des Artikels um Japans historische Entwicklung und aktuelle Probleme und Eindrücke gehen.


HISTORIsche EntwicKLung

Was Japan seit 1990 durchgemacht hat, läßt sich nur schwer in wenigen Sätzen zusammenfassen, aber der Ausgangspunkt der heutigen Probleme und der damaligen Krise waren ein Immobilienboom, billiges Geld und hohe Verschuldung. Bis 1970 war das Land zunächst zur zweitgrößten Welt-wirtschaft geworden: mit Wachstumsraten zwischen 10 und 13 Prozent. Die Einkommen der Bevölkerung hatten sich nahezu verdoppelt. Es folgte ein Phase mit Wachstumsraten von 2 bis 4 Prozent, dabei stagnierten die Einkommen und der öffentliche Sektor wurde zugunsten des privaten reduziert. Für die Absicherung der Bevölkerung verließ man sich auch auf die Rolle der großen, erfolgreichen Unternehmen. Es war Teil der Firmenphilosophie und -kultur für die lebenslang angestellten Beschäftigten gut zu sorgen. Diese Japan-AGs (beispielsweise Toyota, Panasonic und Sony) sowie die dort eingeführten Methoden (Lean und Just-In-Time Produktion, kontinuierliche Optimierung und Verbesserung, siehe zum Beispiel Kanban und Kaizen) wurden weltweit bekannt und stehen heute noch stellvertretend für Japan im Ausland. Andererseits wurden weniger profitable oder als nicht zukunftsfähig erachtete Industrien rigoros umgebaut, geschlossen und ins Ausland verlagert. Die Entwicklung ab Mitte der 80er Jahre ähnelt dann verblüffend der jüngeren Geschichte in Nordamerika und Europa. Der exportorientierten Auto-, Elektronik- und Hightech-Industrie ging es damals sehr gut, die Banken pumpten immer mehr Geld in die Wirtschaft und die Konsumenten konnten sich mehr leisten als jemals zuvor. Als Folge des Plaza-Abkommens von 1985 wertete der Yen auf (vor allem gegenüber dem Dollar) und es begann ein Run auf Immobilien und Aktien. Geld und Kredite blieben günstig verfügbar, die Zinsen waren niedrig. Die Immobilienpreise begannen zu steigen und die Banken gaben immer neue Kredite, die mit den immer höher bewerteten Immobilien abgesichert waren. Die Spekulationsblase erreichte ihren Höhepunkt Anfang 1990, als der Kaiserpalast in Tokyo angeblich einen höheren Wert als der ganze Bundesstaat Kalifornien darstellte (Quelle). Der Aktienmarkt vervierfachte sich innerhalb von 4 Jahren und erreichte fast 40000 Punkte (Nikkei 225). Als Wirtschaftsministerium und Zentralbank versuchten, durch Leitzinserhöhungen und andere Maßnahmen der ungezügelten Spekulation Einhalt zu gebieten, platzte die Blase und die Preise begannen immer schneller zu fallen (Lesetipp: Zeit-Artikel von 1990). Dies bedeutete auch, dass die ausgegebenen Kredite faul und die japanischen Banken de facto insolvent wurden. Ausländische Kapitalgeber zogen ihre Mittel von der japanischen Börse ab und die Wirtschaft rutschte für mehrere Quartale in eine Rezession bei allgemein fallenden Preisen. Man befand sich in einer Deflationsspirale, wodurch einerseits die Binnennachfrage schwach blieb, andererseits die Wirtschaft nicht mehr investierte. Arbeitslosigkeit war bis dahin kaum ein Problem gewesen, nahm nun aber deutlich zu. Auch die lebenslange Anstellung und eine reibungsloser Berufseinstieg für die vielen Uni-Absolventen wurden in der Folge von Selbstverständlichkeiten zu Ausnahmen. Aus Sicht vieler Japaner befand man sich in einer Art Dauerkrise und sparte daher sein Geld lieber, als es auszugeben. Die wirtschaftliche und persönliche Zukunft betrachtete man skeptisch, die Unternehmen hatten spätestens zur Jahrtausendwende die frühere Erfolgsspur verlassen und konnten keine Sicherheit mehr garantieren. Aufgrund der langanhaltenden Schwäche der japanischen Wirtschaft wird in diesem Zusammenhang oft vom „verlorenen Jahrzehnt“ gesprochen. Die Zentralbank Japans versuchte vergeblich, durch Konjunkturprogramme und eine jahrelange Nullzinspolitik Investitionsanreize zu setzen. Auch die Asienkrise 1997/98 erschwerte eine Gesundung und letztendlich gingen doch einige große Banken und Versicherer in Konkurs. 

Außerdem wurde anscheinend lange Zeit unterschätzt, welche Wucht die Demografie in Japan entfalten sollte. Da es kaum Zuwanderung gibt und die Geburtenrate seit 1975 deutlich unter 2 gefallen war, altert Japan stark. Noch 1970 betrug der Anteil der über 65 Jahre alten Personen nur 7 Prozent, dann 1994 bereits 14 Prozent und inzwischen ist man bei ca. 25 Prozent angekommen, wobei die Lage vor allem auf dem Land sich deutlich dramatischer darstellt. Die Städte und Metropolregionen haben bis zuletzt noch Zuzug erlebt, diese Entwicklung wird aber demnächst auslaufen.

Für die Binnennachfrage einerseits, aber auch für den Arbeitskräftemarkt, das BIP-Wachstum und die sozialen Sicherungssysteme andererseits, ist eine abnehmende Zahl von Haushaltsgründungen und von Arbeitskräften sehr negativ und dass beide Effekte Mitte der 90er Jahre zusammenwirkten, war ein entscheidender Nachteil für Japan. Korrigiert man zum Beispiel das nominale, berichtete BIP-Wachstum bezüglich der Demografie, waren die Wachstumsraten in Japan bis auf den Zeitraum der Asienkrise 1997/98 ähnlich hoch wie in den USA und sind erst mit der Finanzkrise 2008 negativ geworden (Quelle): 

Adjustierte BIP-Wachstumszahlen für Japan / USA bis 2009 (Quelle: HSBC)
Adjustierte BIP-Wachstumszahlen für Japan / USA bis 2009 (Quelle: HSBC)

Von außen betrachtet erschien die wirtschaftliche Entwicklung also schlechter, als sie tatsächlich verlief und Japan konnte über Produktivitäts-fortschritte das Bruttoinlandsprodukt steigern. Dies reichte aber vor dem Hintergrund der alternden Bevölkerung nicht aus, nominal auf einen Wachstumspfad zurückzukehren. Seit Ende 2012 Shinzo Abe die Regierungsgeschäfte in Japan übernommen hat, läuft nun ein weiteres Experiment um aus diesem Dilemma auszubrechen. 


Abenomics und meine REISEEINDRÜCKE

Seit 2013 unternimmt die japanische Regierung den Versuch, mit Hilfe von noch größeren Konjunkturprogrammen, einer enormen Geldschwemme und tiefgreifenden Deregulierungen die Situation zu ändern. Für diese Politik wurde der Begriff Abenomics geprägt und zunächst führte das Programm zeitweilig zu mehr Zuversicht in der japanischen Wirtschaft und Bevölkerung. Dabei ist durchaus umstritten, dass stärker wachsen und mehr der gleichen Medizin, der richtige Weg aus der Krise ist. Das demografische Problem - die Überalterung der Gesellschaft und die stark schrumpfende Zahl der Erwerbstätigen - kann man so nicht wirklich bekämpfen und genau das war es ja, was die Produktivitätsfortschritte egalisierte und das BIP nicht mehr wachsen ließ. Mehr Zeitarbeit und Teilzeitjobs zu fördern sind meiner Meinung nach keine Arbeitsmarktreformen, die die Produktivität steigern, sondern nur darauf ausgerichtet, die Anzahl der verfügbaren Beschäftigten zu verbessern. Die Regierung hat außerdem für eine Erhöhung der Geburtenrate plädiert, gleichzeitig soll aber der Anteil von Frauen im Erwerbsleben deutlich ausgeweitet werden und dem zunehmenden Pflegeproblem für die immer älter werdende Elterngeneration mit privaten Initiativen begegnet werden (zum Beispiel: Pflege in der Familie). Diese Ziele sind erneut widersprüchlich, bzw. man hat nicht gesagt, was man tun will, um die Dinge besser miteinander zu vereinbaren. Zum Beispiel ob und wie man die "untentgeltliche" soziale Arbeit für die junge und alte Generation endlich stärker wertschätzen und gegenüber der "Erwerbsarbeit für Geld" besser anerkennen wird.

Meine Eindrücke in der Innenstadt von Kyoto waren vielfältig. Zunächst fällt einem das zahlreiche Servicepersonal an vielen Stellen auf, meist in Uniform gekleidet, das helfen soll den Verkehr zu regeln, Personenströme zu lenken, Auskünfte zu erteilen oder auch einfach den Gang der Dinge zu kontrollieren. Man fragt sich unwillkürlich, wer all diese Leute bezahlt und wo hier ein Arbeitskräftemangel vorliegen soll. Außerdem erkennt man recht schnell, dass der Dienstleistungssektor recht stark ist und ebenfalls, dass Japaner offensichtlich das Einkaufen lieben. Die zahlreichen Möglichkeiten Souvenirs und Mitbringsel zu erstehen, sind jedenfalls viel stärker von japanischen Inlandstouristen umringt, als von ausländischer Seite. Lokale Spezialitäten kann man zur Not noch auf dem Bahnsteig erstehen, vorzüglich verpackt und jeder Form und Größe. Die Kaufhäuser und Einkaufs-möglichkeiten sind endlos und präsentieren japanische und internationale Waren und Marken bevorzugt in einem "Shop im Shop" Konzept. Sie sind zu jeder Tageszeit gut besucht und man kann auch nicht sagen, dass mir irgendwo besonders viele alte Menschen aufgefallen wären. Discounter oder Billigläden sind eher die Ausnahme. Woran man sich auch gewöhnen muss ist, dass man ständig angesprochen wird und auch sehr oft um Entschuldigung oder Aufmerksamkeit gebeten wird. Über besondere Japanisch-Kenntnisse verfüge ich zwar nicht, aber die typischen Sätze und Redewendungen erkennt man bald am Klang, die vielen "Willkommen", "Schön das Sie uns besuchen", "Danke das Sie unser Gast sind", "Danke vielmals" sind auf jeden Fall ungewohnt. Auch sprechen nicht nur die Fahrstühle und Rolltreppen mit jedem und andauernd, sondern auch Busfahrer werden nicht müde jedes Anfahren und Stoppen des Busses im Stau anzukündigen :-)  Es geht halt sehr höflich zu und ein Lächeln oder eine angedeutete Verbeugung hilft in Japan oft über ein Missverständnis oder eine ungewohnte Situation hinweg. Wirtschaftliche Krise oder Rezession? Danach sah das Land jedenfalls nicht aus - die Probleme werden, wo vorhanden, offenbar gut versteckt bzw. sind erst nach einem längeren Aufenthalt im Land zu erkennen und wahrnehmbar. Die Konferenz, die ich aus beruflichen Gründen in Kyoto besucht habe, war jedenfalls stark frequentiert und alle bekannten japanischen Unternehmen und Universitäten vertreten. 

Da Japan in gewisser Weise die Entwicklung von Europa vorweggenommen hat und die Probleme Geldschwemme, Verschuldung, Überalterung usw. sich nicht einfach in Luft auflösen werden, lohnt es sich auf jeden Fall die weitere Entwicklung dort genau zu beobachten. Kyoto und die Japaner wirkten auf mich jedenfalls sehr vital und energiegeladen, manchmal auf eine liebenswürdige Weise exotisch und verrückt. Daher nehme ich mir fest vor, schon bald Japan einen weiteren Besuch abzustatten!


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Kommentare: 2
  • #1

    Tobi (Mittwoch, 08 Juli 2015 21:45)

    Hey, kann ich nur bestätigen - von Wirtschaftskrise merkt man in Japan eigentlich nichts. In Kyoto ist mir noch aufgefallen, dass der öffentliche Verkehr bei weitem nicht so gut war wie in Tokyo zum Beispiel, und dadurch viele Autos und Fahrräder unterwegs. Andere Städte haben ein so gutes öffentliches Transportsystem, dass dort fast niemand ein Auto hat (oder die Parkgebühren sind in Tokyo, Osaka etc einfach zu hoch...) Dass die Läden eher teuer sind und extrem viel Servicepersonal unterwegs lässt einen manchmal schon denken, die Wirtschaft müsste eigentlich total unproduktiv sein - aber trotzdem gibt es ja enorme Außenhandelsüberschüsse. Aber gerade Essen ist ja teuer, ich erinnere mich daran, dass Bierdosen (0,33) im Supermarkt oder Conbini weit über 200 Yen gekostet haben. Dafür ist (zumindest im Moment) die Arbeitslosigkeit extrem niedrig. Ein Bekannter von mir der auch gerade seinen Uni-Abschluss macht meinte, dass er schon einen Job für die Zeit nach der Uni gefunden hat. Und das über ein halbes Jahr bevor er fertig wird!
    Ein sehr interessantes Land jedenfalls.

  • #2

    Covacoro (Mittwoch, 08 Juli 2015 23:35)

    Hallo Tobi,
    danke für Deinen Kommentar. Was Du zum Verkehr in Kyoto gesagt hast, habe ich auch beobachtet. Das Essen fand ich gar nicht so teuer, was auch dem günstigen Kurs geschuldet war (ca. 139 Yen für 1 Euro). Da konnte man sehr gut und reichlich essen für ca. 10-15 Euro, z.B. Ramen-Menü für 900 Yen, Sushi-Menu für 1400 Yen, Tonkatsu für 1200-1500 Yen. Bier, Wein, Sake :-) etc. sind aber trotzdem etwas teurer als in Europa.
    Covacoro