Vor einigen Tagen hat die EZB die Leitzinsen von -0.4% auf -0.5% gesenkt.
Diese Nachricht war den Tagesthemen wert, die Sendung mit diesem Thema zu beginnen. 13 Minuten wurde über die Wirkung auf Banken, den deutschen Sparer und die Preise von Immobilien und Aktien berichtet. Es ist selten, dass ein Thema soviel Sendezeit bekommt.
Im Interview mit Hermann-Josef Tenhagen (Chefredakteur Finanztip) wurde vieles Richtige gesagt. Der Rat zu langfristigem Investieren am Aktienmarkt gehört dazu. Denn die Zeit sei der Freund jedes Anlegers: 15 Jahre in irgendeinen internationalen Aktienfonds und man habe in der Vergangenheit niemals Verluste erwirtschaftet, sondern im Schnitt 7% Rendite.
Für die Leser von Finanzblogs nichts Neues. Diese Statistik ist uns so oder so ähnlich sicher schon oft begegnet. Super, die Zeit und den Zinseszins auf seiner Seite zu haben, nicht wahr? Na ja, fast. In der Realität erlebt das ein Sparer oder Investor doch etwas anders.
ZeIT - FREUND und FeIND ZUGLEICH
Wohl jeder hat schon einmal einen Zinsrechner angeworfen, um zu berechnen, was aus einer Einmalanlage oder einem Sparplan wird, wenn man eine bestimmten Zins unterstellt. Das Endergebnis ist in der Regel erfreulich, insbesondere wenn man typische Aktien-Renditen der vergangenen Jahrzehnte verwendet (5 bis 7% p.a.) und nicht die heutigen Tagesgeldzinsen.
Daher zieren diese Rechnungen jegliche Artikel, Flyer und Werbungen, die zum Sparen ermuntern wollen. Und das Deutsche Aktieninstitut berechnet regelmäßig das Renditedreieck, um das grafisch eindrucksvoll zu illustrieren: die Zeit als Freund.
Nichts wird aber gleichzeitig so freigiebig verschwendet, achtlos vernichtet wie Zeit. Erst wenn die Lebensuhr Halbzeit zeigt, in der sogenannten 'Midlife-Crisis', beschäftigen sich viele erstmals mit dem Wert unserer Lebenszeit. Manch einer beschließt erst dann, mit dem Sparen ernsthaft zu beginnen. Mancher erkennt erst dann, wie drastisch sich ein Unterschied von ein paar Prozent-Punkten Rendite, in der Spardauer oder -rate auf die Endabrechnung auswirkt. Darauf eben, wann man finanziell abgesichert ist.
Das weder die Wirkung von Zins noch von Zeit wirklich verstanden wird, sieht man auch daran, wie mit Krediten umgegangen wird. Denn es geht dabei nicht nur um Geld, sondern um Lebenszeit, die man in der Zukunft aufbringen muss. Gerade heute, wo die Soll-Zinsen niedrig sind, werden immer gigantischere "Einfamilien"-Häuser gebaut. Und fragt man den stolzen 180m² Betongold-Besitzer, wann denn der Kredit getilgt sein wird, heißt es oft lapidar, dass man erstmal für 15 Jahre gerechnet hat, die Zinsen ja so günstig sind.
Hier ist die Zeit eindeutig Feind und die Frage, ob bei einer Tilgungsrate von 2% eine Hypothek schneller abgezahlt ist, wenn der Hypothekenzins 1.75% oder 3.5% beträgt, wird selten richtig beantwortet und entlarvt die Unkenntnis. (Kleiner Tipp: Hypothekenrechner anwerfen, beide Beispiele durchrechnen und auf die Restschuld achten).
Aber zurück zum Investor oder Sparer an der Börse. Wer Zeit hat, hat auch Geduld, könnte man meinen. Und da wir vorausplanen, die Sache also rational angehen, starten wir früh mit unseren Bemühungen und werden niemals ungeduldig. Tja, Sie ahnen schon, liebe Leser, das ist das idealisierte Bild, was selten der Realität entspricht.
Viele Jugendliche, Berufsstarter und Junginvestoren glauben, alle Zeit der Welt zu haben und für Sie vergeht die Zeit gefühlt im Schneckentempo. Sich mit dem Kapitalmarkt, Sparplänen oder einer privaten Altersvorsorge zu beschäftigen, wird gerne auf- und vor sich her-geschoben. Geduldig in kleinen Schritten vorzugehen ist eher nicht "in". Andere Dinge sind spannender und wichtiger.
Mit der Gründung einer Familie und beruflichen Avancen beginnt dann das Hamsterrad und die Zeit immer schneller zu laufen (gefühlt!) und die 40- bis 50-jährigen fragen sich plötzlich, wo all die Jahre hin sind. Ein Kassensturz bringt dann zutage, wie die Situation ist und nicht selten wird dann versucht, den Tanker mittels harter Kurskorrektur noch auf Zielkurs zu bringen.
Das Rentner niemals Zeit haben, ist nicht einfach nur ein Sprichwort, sondern deckt sich mit deren Gefühlen. Je nach Studie oder Buch zum Thema, soll sich die Zeit gefühlt um den Faktor 2 bis 3 beschleunigt haben, wenn man auf die 60 zugeht. Manche meinen, wenn die biologischen Prozesse langsamer laufen, sei es doch logisch, dass die äußere Zeit verkürzt erscheint. Und so beobachte ich häufig, dass die Hektik und Risikobereitschaft im Alter, im Schlussspurt zur Rente, nochmals zunimmt.
Und was sehen wir in allen 3 Fällen: weder in der Jugend, noch im mittlerem, noch im fortgeschrittenen Alter wird wirklich gelassen oder geduldig investiert. Das ist sehr gefährlich, aber aus den Lebensumständen und Depotständen heraus verständlich.
Wenn Sie es besser machen oder gemacht haben: Glückwunsch! Aber wir sollten den Tatsachen auch ehrlich ins Auge blicken, beide Seiten der Medaille schildern, wenn wir über langfristiges Sparen reden. Denn es geschieht nicht im luftleeren Raum.
Es klingt so einfach, über 30 Jahre jeden Monat 100, 150 oder 250 Euro einzuzahlen oder regelmäßig größere Beträge zu investieren. In der Realität, mit einem hoffentlich wachsenden Depotstand und der tickenden Uhr im Hinterkopf, ist es schwer. Besser vorbereitet sein auf diese Herausforderung, als von der Zinseszinskurve und der Aussage "nach 15 Jahren war man noch nie in den Miesen" eingelullt.
Ein Kurseinbruch um 20% fühlt sich mit 30 ganz anders an, als mit 50. Und unsere Widersacher, die gefühlte Zeit, macht es uns gerade dann nicht einfacher. Wäre ja auch noch schöner, wenn 1 Jahr Baisse genauso schnell verginge, wie 1 Jahr Hausse. Nein, dann ticken die Uhren extra langsam. Auch so eine Phänomen, was man erlebt haben muss, um es zu glauben und zu verstehen.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie diese Herausforderung meistern.
Wenn Sie den Gegenspieler Zeit ernst und ihre berechtigten Gefühle und Reaktionen nicht auf die leichte Schulter nehmen, haben Sie den ersten, wichtigen Schritt dazu gemacht.
(c) 2019 Covacoro
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Prof (Donnerstag, 26 September 2019 13:15)
Ja Zeit ist das Wertvollste. Man kann Zeit zumindest bedingt in Geld tauschen, z.B. in Form von Überstunden. Aber auch viele Millarden konnten einen Steve Jobs nicht retten. Mitunter kann aber Geld das Leben etwas verlängern, da die gesundheitliche Prophylaxe, Ernährunge, Sport und medizinische Versorgung möglich sind.
Beim Zinseszins fällt mir immer wieder der Josephspfennig ein: Wenn Josef zu Jesus Geburt einen Pfennig angelegt hätte, z.B. zu 3% so hätte man im Jahre 1156 sämtliches Gold der Erde für den Erlös kaufen können. Und da wird auch sichtbar, wo das Problem steckt: Es gibt keine sichere Anlage zu 3% über Jahrtausende.
https://www.grobauer.at/josefs-pfennig.php
Und ich habe meine Bedenken, ob uns nicht das gesamte Eurosystem, in dem wir nun einmal gefangen sind, um die Ohren fliegt. Aktien sind zwar Sachwerte, aber sie werden auch in Euro abgerechnet. Und Gold wird zur "Terrorismusbekämpfung" verboten. So gesehen kann ich es jungen Menschen nicht verdenken, wenn sie "erst einmal leben wollen".
Sabrina (Freitag, 27 September 2019 16:16)
Geld erleichtert vieles aber Zeit kann man sich nicht kaufen.
Trotzdem sollte man mit der Altersvorsorge früh beginnen und damit nicht erst nahe des Rentenalters anfangen. Bei der Bank bekommt man nichts mehr für sein Geld. Also bleibt nur sein Geld vernünftig anlegen. Entweder die sichere Variante mit ETFs oder eben mit einem eigenen Portfolio.
Die Lebenszeit bleibt trotzdem vom Schicksal vorbestimmt und das Schicksal ist leider nicht käuflich.
IMHAMSTERRAD (Montag, 30 September 2019 00:38)
Viele Menschen unterschätzen die Zeit, die sie zur Altersvorsorge haben. Sie wollen sich eigentlich auch gar nicht damit beschäftigen, Konsumieren ist viel schöner und die Rente wird es schon richten. Das Erwachen kommt mit Erhalt des Rentenbescheides zum Rentenantritt.
Prof (Dienstag, 08 Oktober 2019 14:04)
@imhamsterrad
Jeder gesetzlich Versicherte erhält ja einmal im Jahr eine Renteninformation, wo genau drauf steht, was er an Rente zu erwarten hat. Aber vielleicht ist es auch bequemer, sich am Ende auf die Solidargemeinschaft (Grundrente) zu verlassen?